Keep on running

NEW-YORK

Ruben, unser armenischer UBER Fahrer, versteht die Welt nicht mehr. Es ist 5 Uhr morgens am ersten Sonntag im November. Draußen ist es stockdunkel und eiskalt. Und doch sind zehntausende Menschen in leichten Sportklamotten zu Fuß unterwegs, nämlich die, die kein Taxi mehr bekommen haben. Wir hatten Glück, wir haben Ruben und sitzen Bananen mampfend auf der Rücksitzbank seines klapprigen Chevrolets. Ruben will wissen, was los ist. „It’s the New-York Marathon“, sagt Wayne. Menschen aus nahezu allen Ländern dieser Erde sind heute hier um 42,2 Kilometer durch die Stadt zu rennen. Bei der größten Laufveranstaltung der Welt. Unser Fahrer ist verunsichert. Das Wort Marathon scheint ihm geläufig, die Dimensionen nicht. „You buy an expensive flight ticket from far away Germany to do this crazy shit?“ fragt er. Ich erkläre ihm, dass es ein Privileg sei hier mitlaufen zu dürfen, dass sich jedes Jahr an die hunderttausend Menschen um einen Startplatz bemühen, es eine Lotterie gebe und man Glück haben und 600 Dollar zahlen müsse. Jetzt ist der arme Kerl völlig von der Rolle. „You also PAY for this? Running 26 miles through the cold?“. Ich muss lachen. „Yes, buddy. People like us love it. Wer’re long distance runners“. Außerdem ist die Wettervorhersage für New-York heute um einiges besser als letztes Jahr. Da habe ich für Antenne Bayern berichtet und die komplette Strecke im Dauerregen absolviert. Mit dem Handy in der Hand weil wir einen Teil des Marathons live auf Facebook gestreamt haben. Das fällt heute weg. Ich darf mich voll und ganz auf das einlassen was in wenigen Stunden hier abgeht: Neben unzähligen Hochs und Tiefs, die Kopf und Körper betreffen die wahrscheinlich größte Marathon Party der Welt. Denn für New-Yorker ist das wie ein Feiertag. Rund 2.5 Millionen Menschen werden an der Strecke erwartet. Bands, DJ’s, Tänzer und Trommler heizen ein, Kinder reichen Süssigkeiten und Hunde geben High-five. Aber dazu gleich mehr.

"Um kurz vor 7 geht die Sonne über einem klaren, stahlblauen New-Yorker Himmel auf. Besser könnten die Bedingungen nicht sein"

Ruben setzt uns an der Public Library ab, eine der drei großen, öffentlichen Bibliotheken der Stadt und in den frühen Morgenstunden des 4. November ein provisorischer Busbahnhof für fünfzigtausend Läuferinnen und Läufer. Der New-York City Marathon startet auf Staten Island, südlich von Brooklyn, die Anreise dauert über eine Stunde. Zeit, die wir nutzen um noch ein paar Bananen und Weissbrot zu essen. Schnelle Kohlenhydrate, die noch vor dem Start durch den Magen durch sein müssen. Sonst läuft der Körper nicht rund. Um kurz vor 7 geht die Sonne über einem klaren, stahlblauen Himmel auf. Besser könnten die Bedingungen nicht sein. Ich stupfe Wayne in die Seite damit er diesen Moment nicht verpasst, mein Gefährte ist nämlich schon wieder eingedöst. Der Kerl kann wirklich überall schlafen. Beneidenswert… Kurze Zeit später spuckt uns der Reisebus in Fort Wadsworth aus, eine ehemalige Befestigungsanlage, direkt an der Meerenge der „Narrows“. War früher mal ein Militärstützpunkt um die Stadt zu schützen, heute, an diesem besonderen Tag dient er als Basislager für die Teilnehmer dieser gigantischen Sportveranstaltung. Obwohl die Sonne inzwischen hoch am Himmel steht ist es noch eiskalt. Menschen bibbern unter Rettungsdecken, halten sich an ihren Tees fest, mampfen Riegel, die die Sponsoren an ihren Ständen anbieten. Wüssten wir es nicht besser, würden wir uns in einem Flüchtlingslager wähnen.

"Die Erschöpfung bei einem Marathon ist so groß, dass manche Leute
hren Schließmuskel nicht mehr unter Kontrolle haben"

Die Stimmung schlägt schlagartig um als der erste Donnerschlag ertönt. Das Signal für den Start der Profis sowie Sub3 Läufer, also die Athletinnen und Athleten, die in der Lage sind einen Marathon in unter 3 Stunden zu absolvieren. Dafür müssen sie einen Nachweis erbringen. Wir scheitern „knapp“ 😉 In Berlin, 7 Wochen zuvor,, habe ich 4 Stunden und 3 Minuten gebraucht, Wayne 3:55. Dementsprechend wurden wir auch in unterschiedliche Startblöcke eingeteilt. Später starten darf man aber immer also gibt mein Kumpel seine Welle auf damit wir gemeinsam loslaufen. Wellen bestehen aus etwa zehntausend Athletinnen und Athleten und werden alle 20 Minuten freigegeben. Mehr Menschen schafft die Verrazano-Narrows-Bridge nicht. Unser Block setzt sich in Bewegung, es sind nur ein paar hundert Meter bis zur Startlinie. Wer nochmal pinkeln will muss sich anstellen, die Dixi Klos sind sehr begehrt vor einem Marathon Start. Die Erschöpfung über 42 Kilometer, und das ist kein Scherz, kann so groß sein, dass manche Leute ihren Schließmuskel nicht mehr unter Kontrolle haben. Und nichts ist schlimmer als mit einer vollgekackten Hose in den Central Park einzulaufen, oder? Außerdem stehen stehen links und rechts riesige Container um die warmen Sachen loszuwerden. Tausende alte Pullis und Jogginghosen landen in der Kleidersammlung und werden nach dem Event an New-Yorker Bedürftige ausgegeben. Ein feiner Zug wie ich finde. Dementsprechend lustig sehen die Läuferinnen und Läufer aus, viele haben ihre 80er und 90er Sportfummel aus dem Schrank gekramt für diesen Tag.           

"50 Schiffe haben sich in Position gebracht
um die gigantische Menschenmenge zu bestaunen,
die gerade ihre Reise über die erste Brücke antritt"

Nur noch wenige Minuten bis zu unserem Start. Auf einer opulenten Tribüne rechts der Strecke stehen Männer in Uniform, ein junges Mädchen singt die amerikanische Nationalhymne. Als sie mit der Stimme runtergeht, zündet einer der Uniformierten die Kanone, der Tross setzt sich in Bewegung. Die Herausforderung beim größten Marathon der Welt sind ganz klar die Brücken. Insgesamt werden wir sieben davon überqueren. Erst geht es jeweils hunderte Meter bergauf und dann etwa die selbe Strecke wieder bergab. Auf der ersten Hälfte der 26 Meilen treibt es lediglich den Puls nach oben, auf der zweiten brennen Oberschenkel und Waden so sehr, dass man sich wünscht niemals gestartet zu sein. Aber jetzt, in den ersten Minuten, ist noch alles gut. Das Adrenalin und die Euphorie treiben uns die Verrazano Bridge hoch. Am Scheitelpunkt der Brücke steht ein Polizist vor seinem Streifenwagen, hält sein Handy an den Lautsprecher und beschallt uns mit einer kratzigen Version von „Highway to hell“. Ich grinse übe beide Ohren, die Amerikaner haben einfach Humor. Kurz schweift mein Blick nach links, in Richtung des New-Yorker Hafens. An die 50 Schiffe haben sich in Position gebracht um die gigantische Menschenmenge zu bestaunen, die gerade ihre Reise über die erste Brücke antritt. Ein paar Feuerwehrboote schießen dreißig Meter hohe Wasserfontänen aus dem Hudson River in die Luft. Es ist ein Spektakel, wie man es nur hier, an diesem besonderen Tag erlebt. Deshalb feiern die New-Yorker ihren Marathon. Er bietet das, was Amerikaner lieben: Ganz großes Entertainment. 

"Die ersten 5 Kilometer haben wir uns noch unterhalten,
jetzt sagt keiner mehr was"

Nach 2 Meilen erreichen wir Brooklyn. Hier beginnt die Party. Es gibt Menschen, die laufen diesen Marathon mit Kopfhörern, was ich für totalen Blödsinn halte. Beim Training packe ich mir manchmal auch Musik auf die Ohren aber hier, beim größten Laufspektakel der Welt, will ich keine Sekunde der einmaligen Stimmung verpassen. Links eine kleine Bühne mit Jungs, die eine Choregraphie zu „Step by Step“ von den New Kids on the Block vorbereitet haben. Die tanzen stundenlang nur zu diesem Song, bis der letzte Läufer, die letzte Läuferin durch ist. Rechts ein älterer Herr, der seinen Hovawart darauf trainiert hat uns high-fives, also die Pfote zu geben. Ich schlage natürlich ein weil ich Hunde liebe. Beide „Teams“ waren übrigens letztes Jahr auch schon da. Scheinen hier zu den Klassikern zu gehören. Ein paar Meter weiter stehen Kinder, die selbstgemachte Donuts anbieten. Zuckersüß, in jeder Hinsicht, aber leider ganz schlecht wenn man gerade erst losgelaufen ist. Es gab übrigens auch welche, die tatsächlich Cheeseburger im Angebot hatten. Und die haben erstaunlichen Absatz gefunden. Vor allem bei Athletinnen und Athleten, die einfach nur ankommen wollen. Das machen übrigens in New-York ganz viele so. Dabei sein ist alles, Zeit egal. Ich lasse mich lieber antreiben von einer Hundertschaft Trommler, die mit Schmackes und mindestens 120 beats per minute auf ihre Instrumente eindreschen. Das sieht mir auch nach Sport aus, die erste Reihe hat bereits Schweißperlen auf der Stirn. Wayne und ich kucken inzwischen genau so aus der (Sport)Wäsche. Die ersten 5 Kilometer haben wir uns noch unterhalten, jetzt sagt keiner mehr was.

"Meine Pulsuhr meldet nun plötzlich einen 200er Wert,
was unmöglich ist. Ich müsste schon längst umgefallen sein"

Zusammen einen Marathon zu laufen ist so eine Sache. Wenn man nicht auf dem exakt gleichen Leistungsstand ist, was ja so gut wie nie vorkommt, läuft immer einer über seine Verhältnisse. Das macht sich am Anfang noch nicht bemerkbar. Aber spätestens bei der Hälfte zahlt man einen Preis. Und der ist im schlechtesten Fall während des Rennens nicht wieder gut zu machen gegenüber dem Körper. Da ich wenige Wochen vor dieser Reise eine mittelschwere Bronchitis auskurieren musste, übrigens kurz nach dem Berlin Marathon Ende September, und mein Kardiologe das Rennen in NYC erst kurz vor der Abreise für mich freigegeben hat, schaut es heute so aus als das ich derjenige sein werde, der sein Tempo drosseln muss. Als Wayne in Greenpoint bei Kilometer 20 auf’s Klo muss teile ich ihm mit blasser Nase mit, ich würde weiterlaufen, er hole mich ganz sicher wieder ein. Meine Pulsuhr zeigt in diesem Moment Werte jenseits der 180 an, was gar nicht gut ist. Hat der Herz-Spezialist wirklich genau hingesehen? Ist bei mir alles in Ordnung? Muss ich abbrechen? Meine Pulsuhr meldet nun plötzlich 200, was unmöglich ist. Ich müsste schon längst umgefallen sein. Liegt vermutlich an der Messmethode. Ich habe keinen Gurt um die Brust und die Messung über’s Handgelenk ist mit Vorsicht zu genießen. Also entspanne ich mich und gehe ein paar Meter zu Fuß. Wayne kommt von hinten an, fragt was los ist. Ich erkläre ihm meine Situation und empfehle ihm alleine weiter zu laufen. Bringt ja nix jetzt Händchen zu halten. Wir einigen uns auf einen Treffpunkt nach dem Ziel und er zieht davon.           

"That’s my 29th Marathon, young friend.
Next year I’m gonna do number 30"

Dieser Moment in dem dir klar wird, dass du dir deine angepeilte Zielzeit in die Haare schmieren kannst, du dir ganz ernsthaft die Frage stellst, ob du überhaupt noch ankommst oder nicht lieber die nächste U-Bahn Richtung Central Park nimmst, ist das Schlimmste was dir bei einem Rennen passieren kann. Ein Tief im Kopf während der Körper längst Schmerzen hat und die Hälfte der Strecke noch vor dir liegt. Aber ich will jetzt nicht hinschmeissen. Ich hab’s letztes Jahr hingekriegt, ich kriege es auch dieses Jahr hin. Zudem will ich 2019 meinen ersten Ironman absolvieren. Da ist der Marathon nur eine von drei Disziplinen. Vorher muss man noch knapp 4 Kilometer schwimmen und 180 Kilometer Rad fahren. Also setze ich mich wieder in Bewegung. Ganz langsam. Mal sehen, wie die Beine reagieren. Nach ein paar Minuten habe ich einen Rhythmus gefunden mit dem ich klar zu kommen scheine. Rhythmus ist das ein und alles beim Ausdauersport. Wenn der passt wird der Puls gleichmäßiger, man verbrennt weniger Kohlenhydrate. Davon scheine ich übrigens noch genug im System zu haben. Eine üppig ausgestattete Verpflegungsstation lasse ich links liegen und laufe weiter. Die nächste Prüfung steht an. Ich passiere die Auffahrt zur Queensboro Bridge, die uns über den East River nach Manhattan bringt. Vor der haben übrigens alle Schiss. Eine endlos lange Brücke ohne Zuschauer bei Kilometer 25. Es wird plötzlich ganz still, man hört nur noch das Schnaufen und Ächzen der anderen. Alle kämpfen mit sich und dem Aufstieg. Vor mir ein älterer Herr, der sichtlich durch ist. Ich fasse ihm an die Schulter und frage ob alles in Ordnung sei. Er zwingt sich zu einem Lächeln und sagt: „All good budy, my back hurts, I’m 72 years old“. Irre. Ob er das schon mal gemacht habe will ich wissen. „That’s 29th Marathon, young friend. Next year I’m gonna do number 30“. Ich glaube DAS ist der Moment, der mich über die verbleibenden Kilometer retten wird. Da humpelt dieser zähe Rentner mit beachtlichem Tempo die Brücke runter und ich mit meinen Anfang 40 hab eben noch an’s Aufgeben gedacht. Manchmal schenkt einem das Universum genau den richtigen Mentor zur richtigen Zeit. Ich bedanke mich herzlich, nehme ihn sogar kurz im Laufen in den Arm und ziehe mein Tempo an.

"Als ich das Tor mit der Zeitmessung sehe
heule ich einfach drauf los"

Zehn Kilometer weiter, ich habe gerade Harlem hinter mir gelassen, taucht rechts endlich der Central Park auf. Jetzt noch etwa 7k, das ist zu schaffen. Auf der 5th Avenue ist der Teufel los. Zehntausende Zuschauer schreien die Läuferinnen und Läufer nach vorne. Wer hier noch kontrolliert joggen kann, holt nochmal richtig Zeit raus. Die Motivation ist wieder voll da. Am südlichen Ostende des Parks steht der berühmte „Apple“ Kubus, hier biege ich rechts ab und bin auf dem letzten Kilometer. Die Fahnen aller Nationen der Erde werden in den sonnigen New-Yorker Himmel geschwenkt, mir laufen die ersten Tränen die Backen runter. Weil mir einfach alles unfassbar weh tut, ich aber gleichzeitig der glücklichste Mensch der Welt bin. Und so geht es allen hier auf der Strecke, glaube ich. Man kann diese Energie auf einer Marathon-Zielgerade spüren. Als ich das Tor mit der Zeitmessung sehe heule ich einfach drauf los, reiße die Hände nach oben, torkle in die Arme einer Helferin, die mir die Medaille umhängt und mich in den Erste-Hilfe Bereich lotst. Ich muss wohl richtig scheisse aussehen. Trotzdem lehne ich dankend ab. „I’m OK“, sprudelt es aus mir raus. Außerdem stehen da hinten Wayne, seine Frau und sein kleiner Sohn. Mein Freund ist Gott sei Dank auch gesund angekommen. Zeit die Beine hochzulegen. I’ll be back someday, New-York. You were amazing. Und vielleicht kriegen wir Ruben, unseren UBER Fahrer das nächste Mal zu diesem Abenteuer überredet 😉