Smells Like Green Spirit

Ecuador & galapagos

Ich weiß fast nichts über dieses Land aber ich verliebe mich in Südamerika noch bevor wir den europäischen Luftraum verlassen. In einer heillos überbuchten Frankfurt-Bogota Maschine sitze ich neben der vermutlich einzigen kolumbianischen Großfamilie, die deutsch kann. Zwei Schwestern mit Kindern plus Ehemann (gebürtiger Bremer und Grund für die herausragenden Deutschkenntnisse der Kolumbianerinnen). Normalerweise nervt mich Flugzeug-Smalltalk mit gelangweilten Mitreisenden, vor allem wenn das Bordkinoangebot super ist, aber die Filme haben nicht annährend den Unterhaltungswert der beiden Damen mit den langen schwarzen Haaren. Sie legen los wie wahrscheinlich nur Südamerikanerinnen loslegen. Fragen. Antworten. Ratschläge. Komplimente. Anstoßen. Nachbestellen. Das kleine Kind wickeln, dem großen die Leviten lesen. Die ganze Lebensgeschichte in weniger als 2 Minuten. Und all das in beliebiger Reihenfolge. Ich habe so gut wie nichts kapiert und doch alles verstanden. Südamerika ist das Land in dem Menschen sich noch am allerliebsten mit Menschen beschäftigen – und nicht mit iPhones. Ein wohltuender Reset für einen Bildschirm Junkie wie mich. Und das richtige Warm-Up für das Temperament geschwängerte Südamerika.

Eine Stunde Aufenthalt im Transitbereich des Flughafens von Bogota, der Hauptstadt von Kolumbien. Zwischen hunderten schnatternden Kolumbianern, Peruanern und Ecuadorianern steht als letztes Bollwerk des Westens ein „Dunkin’ Donut“ Stand im Fressbereich von Gate 3 – mit einer beachtlichen Traube unterzuckerter Südamerikaner davor. Ich fürchte, ein klein wenig amerikanisiert ist am Ende jeder auf dieser Welt. Wir auch. Also nix wie rein mit der gesträuselten Schoko-Marmeladen-Sauerei.
Eineinhalb Stunden Rumpelflug nach Quito, die Hauptstadt Ecuadors. Die obligatorischen eineinhalb Stunden Schlangestehen am Einreisecounter mit schlecht gelaunten Zoll-Police-Officers gehen nachts um halb zwölf nach fast achtzehn Stunden Reisezeit gehörig an Substanz und Nerven. Aber es hilft nichts. Dafür hat unser Taxifahrer Juan das breiteste Grinsen der Welt im Gesicht obwohl er bestimmt schon genau so lange wartet wie wir – auf uns nämlich. Also, schnell noch ein paar ATM Dollars ziehen und nix wie weg. Die Luft ist kalt und dünn, die Stadt liegt auf fast dreitausend Metern. Aber noch reagiert mein Körper nicht auf die ungewohnten Druckverhältnisse… das wird sich noch ändern… leider. Die Fahrt ins Hotel geht ruck zuck, die Ecuadorianer dürfen aus Sicherheitsgründen nachts auch über rote Ampeln fahren. Die Angst vor einem Überfall ist größer als die vor einem Verkehrsunfall. Viel auf und ab, überall Brücken. Quito sieht aus der Luft aus wie ein Inselstaat mit hunderten Kratern und Tälern. 30 Minuten später sind wir im Himmel. Die Casa San Marcos im Herzen der Altstadt. Ein Mansion aus dem frühen 18. Jahrhundert, vollgestopft mit Antiquitäten. Ich atme Geschichte während ich das obligatorische Gästeformular ausfülle. Dieses winzige Hotel hat nur sechs Zimmer, die aber sind individuell und mit so viel Liebe zum Detail eingerichtet dass einem die Luft wegbleibt. Wer dieses Kunstwerk im Herzen eines Weltkulturerbes geschaffen hat muss ein schöngeistiger Workaholic sein. Ein Schöngeist, der auf den Namen Mayra hört, und trotz überschaubarer Körpergröße sofort jeden Raum erhellt. Aber dazu später mehr. Jetzt ganz schnell schlafen und den Jetlag besiegen. 

Erster Morgen, erste Eindrücke aus dem „Rom Südamerikas“: sehr katholisch. Über jedem Gebäude thront ein Heiliger und über der Stadt die einzige Marienfigur der Welt mit Engelsflügeln. Warum die ausgerechnet hier steht hat man mir mehrfach in holprigem Englisch erklärt, leider habe ich es nicht verstanden. Ich bin nun mal ein Heidenkind, mein Interesse an den Stars der katholischen Kirche hält sich in Grenzen. So oder so ist es eine gute Idee Quito erst mal von oben kennen zu lernen – und das geht am besten am Rockzipfel dieser knapp vierzig Meter hohen Marienfigur, die am höchsten und zentralsten Punkt der Stadt, am „El Panecillo“, über die 2.4 Millionen Metropole wacht. Quito ist schmal und lang – satte 80 Kilometer vom nördlichsten bis zum südlichsten Briefkasten, eingebettet in unzählige Vulkane. Wer einmal ganz durch will, sollte – je nach Verkehrslage – mehrere Stunden einplanen. Habe ich nicht vor. Den Süden solle man sich ohnehin sparen weil für Touris nicht ganz ungefährlich, der Norden sei zumindest vor Einbruch der Dunkelheit unbedenklich, sagt der Taxifahrer. Also nix wie rein ins Getümmel. Ich bin kein Museums-Kirchen-Sightseeing Ab-Arbeiter, ich laufe einfach drauf los und lasse auf mich wirken. Das Erste was wirkt sind die Stadtbusse. Die halten nicht an Haltestellen (welche es vom Busbahnhof mal abgesehen gar nicht gibt), die halten überall wo man zusteigen will. Du hebst einfach die Hand und der Bus bleibt stehen… großartig, oder? Und damit keiner den Bus verpasst oder übersieht, bzw. überhört, hat jeder Fahrer eine eigene Erkennungsmelodie. Kein Scherz, in Quito wird nicht gehupt, in Quito wird gerockt. Einer legt „Rudolph, the rednosed Reindeer“ in einer Buena-Vista-Social-Club Version auf wenn er um die Ecke biegt. Zudem steht an jedem Zustieg eine Art Marktschreier. Das sind Jungs, deren Job darin besteht möglichst viele Fahrgäste an zu locken… am Einstieg geht’s zu wie am Autoscooter Stand auf dem Oktoberfest.

Neuer Morgen, neues Glück plus Apothekenbesuch. Ich habe die Höhensonne unterschätzt und konkurriere bereits nach dem ersten Tag mit Engländern auf Ibiza. Der Frau hinterm Tresen sage ich „bronceador, por favor“ – so stehts in meinem iPhone Spanischwörterbuch. Die schaut mich entgeistert an und deutet zweifelnd auf den Selbstbräuner im Regal. Chapeau, traue niemals einer Spanisch-App. Die Apothekerin weiß aber auch so was ich benötige (ist ja nicht zu übersehen) und reicht mir grinsend einen dreißiger Sunblocker. Jetzt steht der ersten Krater-Erklimmung nichts mehr im Weg. Der „Pichincha“ ist quasi der Hausvulkan von Quito, knappe 4.800 Meter hoch, noch immer als aktiv eingestuft und mit einer Seilbahn an die Zivilisation geknüpft. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass dieser Berg, mal abgesehen von der dünnen Luft in solchen Höhen, ein Spaziergang wird und belasse es bei Wanderstiefeln, meiner Kameratasche und einem 0,3 Liter Wässerchen. Die Realität sieht leider anders aus.

Die Seilbahn bringt uns auf ein erstes Plateau, der Rest ist Fußweg. Fast 5 Stunden Aufstieg. Auf 4.000 Metern werden die Beine schwer und die Pausen häufig, auf 4.3 bläst dazu ein eiskalter Wind, auf 4.5 zeigt mir meine Freundin den Vogel und sagt sie werde hinter einem Felsvorsprung auf mich warten. Die letzten dreihundert Meter zu einem der Kratergipfel werden zu meinem bisher größten Kampf gegen den inneren Schweinehund. Ich krabble auf allen Vieren (!!!) über Geröll, kaue den Sand den mir der Wind ständig ins Gesicht bläst, mache nach jeder Minute Aufstieg 3 Minuten Pause und schnappe aufgrund des geringen Sauerstoffs in dieser Höhe nach Luft wie ein Asthmatiker kurz vor dem Kollaps. Hundert Meter rechts von mir kotzt ein einsamer Japaner sein letztes bisschen Galle in den Vulkansand und ich stelle fest, ich bin auch fast soweit. Ich verliere jedes Gefühl für Zeit, vor meinen Augen tanzen schwarze Punkte und trotzdem komme ich irgendwann, irgendwie am Kraterrand an. Nicht der höchste Punkt, aber immerhin sehe ich dass auf der anderen Seite außer einem steil anfallenden Geröllfeld so gut wie nichts zu sehen ist.

Schöne Scheiße. Der Lohn aller Mühen ein Durchschnittsfoto mit dem man noch nicht mal bei der Verwandtschaft punkten kann. Ich beginne vollkommen entkräftet mit dem Abstieg. Meiner Freundin 300 Meter weiter unten geht es prima, die hatte eine Begegnung der besonderen Art. Ein Anden-Adler hat sich keine zwei Meter von ihr entfernt niedergelassen um sie zu beäugen. Für einen solchen Moment würden Ornithologen töten. Leider hatte sie keine Kamera zur Hand… die hatte ich. Um das Geröllbild zu schießen. In 90 Minuten hetzen wir den Berg runter. Das 0,3 Liter Wässerchen ist schon längst leer, ich habe Durst wie noch nie zuvor in meinem Leben. Für die Fanta im Gondel-Souvenirshop würde ich jetzt ohne mit der Wimper zu zucken zwanzig Dollar auf den Tisch legen und „passt so“ schreien. Als ich vollkommen entkräftet ein paar hundert Meter vor dem Ziel auf zwei Österreicher (Vater und Tochter) treffe, glaube ich aufgrund meiner Dehydration an eine handfeste Halluzination. Auf mein einstudiertes „hola, que tal“ sagen die beiden „Grias enk“. Nein, die sind echt… mit der Nachbarschaft muss man einfach immer und überall rechnen. Wenigstens sehen die zwei aus wie ich mich fühle. Dabei sollte der gemeine Österreicher doch einen gewissen Leistungsvorsprung beim Erklimmen von Höhen haben. Dem ist nicht immer so, wie ich mit einer gewissen Schadenfreude feststelle.

Das Abendmahl ist Balsam für die Seele. Mayra , der Schöngeist der das Casa San Marcos geschaffen hat, nimmt uns mit zum Dinner um die Ecke. Das „Café Dios no Muere“ könnte aus der Feder von J.K. Rowling stammen, so magisch und schrullig schön ist dieser Ort. 3 Stockwerke, 3  Räume, keiner größer als 5 Quadratmeter und in hunderte Jahre alte Dielen und Mauerwerk gebettet. Der Wein hängt in verstaubten Flaschen von der Decke, eine kitschige Marienfigur wacht über der Spüle. Neben einem handgefertigten Gasgrill an der offenen Gittertür gen Süden steht ein offener Sack frischer Kaffeebohnen die darauf warten über offenem Feuer geröstet zu werden. An den Wänden hängen alte Fotos, Gemälde, Kindermalereien und Schiefertafeln mit handgekritzelten Hinweisen auf das Tagesmenü. Am Fenster des ersten Stocks steht eine Stereoanlage die das Restaurant und den Gehweg mit Bach, Schubert oder B.B. King beschallt. Das einzige elektrische Licht (neben dem auf der Toilette) geht vom Kühlschrank aus – der übrigens mitten im Raum steht. Denn den bedient Mathieu: Koch, Kellner, und Amerikaner mit französischen Vorfahren. Verheiratet mit einer Kolumbianerin und Vater dreier Kinder welche viersprachig aufwachsen (Spanisch, Englisch, Französisch und Latein… offenbar hat er nicht vor seinen Nachwuchs an die Gastronomie zu verlieren). Der Mann macht hervorragende Sandwiches aus Louisiana, Grillwürstchen aus Louisiana und Nachtisch aus Louisiana. Zudem serviert er neben heimischem Äquatorbier auch das Dunkle von Erdinger und eiskalten Jägermeister. Hier passt gar nichts und doch alles zusammen. Das gilt für die Restaurant UND seine Gäste. Da wären Mayra, Ecuadorianerin mit Auslandsaufenthalten in New-York (Studium in den 60ern!), Hotelchefin der Casa San Marcos, Geschäftsführerin des Kirchensenders „Radio Maria“ und Inhaberin der größten Kunstgalerie Quitos. Mark, abtrünniger Amerikaner, ehemaliger Umzugsunternehmer, orthodoxer Katholik, fast 50 und immer in Lederjacke, Jeans und Truckercap unterwegs. „Mum“, Marks Mutter, mit dem Sohn nach Ecuador ausgewandert „weil hier so viele Kirchen zu Fuß erreichbar sind“ (ihre drei anderen Kinder sind in den Staaten geblieben und halten „Mum“ sowie auch Mark für nicht mehr ganz dicht). Johnny, ebenfalls Amerikaner und in Lauerstellung für das Arbeitsvisum in Kolumbien (will dort als Lehrer für Literatur neu durchstarten). Juan aus Quito, Touristenführer mit hervorragenden Englischkenntnissen und unser Begleiter für die kommenden Tage (seine Familie lernen wir auch bald kennen, nichts für schwache Nerven). Und last but not least Paul Fernandez, schlaksiger Ecuadorianer in zu großen Anzügen und Hobbyfotograf, immer mit Kamera und Laptoptasche unterwegs. Diese bunt zusammen gewürfelte Truppe ist also für die Abendunterhaltung zuständig und wird im Laufe der Woche verlässliche Anlaufstelle für wundervolle Dinners oder kurzweiligen Kaffeeklatsch. Noch niemals zuvor habe ich mich in einer Kneipe so wohl gefühlt wie im „Café Dios no Muere“ in der Altstadt Quitos. Das mag am einfachen aber guten Essen, den treuen Gästen oder der schrulligen Einrichtung in schummrigem Kerzenlicht liegen… vielleicht ist es aber einfach nur die Magie eines Ortes an dem man die Zeit vergisst. Hier hängt nämlich nur eine einzige Uhr – und die ist schon vor Jahren stehen geblieben.

"Hier hängt nämlich nur eine einzige Uhr - und die ist schon vor Jahren stehen geblieben."

Der Südamerikaner an sich ist ein echtes Schätzchen. Freundlich, hilfsbereit und trotz riesiger Lücken in der Kauleiste immer ein breites Lächeln im Gesicht. Aber überall wo’s viele Touristen gibt, gibt’s eben auch schwarze Schafe. Ich nehme es sportlich. Wenn man hier über’s Ohr gehauen wird, geht es in der Regel nur ein paar Dollar – und der Nutznießer kann jeden Cent gebrauchen. Wenn ich nicht beschissen werde gebe ich so oder so ein anständiges Trinkgeld. Am Ende läuft es also auf Dasselbe hinaus. Manchmal geht es aber trotzdem um’s Prinzip. Beim Taxi fahren zum Beispiel. Eine Fahrt innerhalb der Altstadt sollte nicht mehr als einen oder 2 Dollar kosten. Die Jungs hier lassen aber gerne mal das Taximeter aus und berechnen am Ende das Dreifache. Einfach vorher fragen was es kostet und den Preis fixieren. Der Fahrer macht lieber den handelsüblichen Deal als gar keinen. Richtig unschön ist allerdings der Beschiss um den „Mittelpunkt der Erde“. Hier geht’s nicht nur um’s Geld, hier geht’s um vorsätzlichen Betrug. Und bei so was bekomme ich echt schlechte Laune. In Quito rühmen sich tatsächlich drei oder mehr Touristenattraktionen der Mittelpunkt der Erde zu sein, der absolute Nullpunkt, die Mitte der Mitte der Mitte. Aber wer hat Recht? Ich war nie eine Leuchte in Physik und Astrologie, aber ich versuch es mal. Ecuador heißt Ecuador weil es auf dem Äquator liegt. Der wird natürlich überall im Land gegen Eintrittsgeld präsentiert. Eine schmale Linie welche die Nord- von der Südhalbkugel trennt. Die darf man fotografieren, man kann drauf laufen oder drüber hüpfen. So weit so gut. Warum aber liegt Ecuador nicht nur vertikal sondern auch horizontal auf einer Nulllinie? Warum haben sich Geographen aller Herren Länder ausgerechnet hier auf den Mittelpunkt geeinigt? Weil nur hier hohe Berge auf der äquatorialen Linie stehen! Und hohe Berge sind ungemein wichtig wenn es um Geographie, Astrologie und so weiter geht. Die laufen nämlich nicht weg. Fixpunkte am Horizont also. Und hat man drei davon plus Sonnenlicht lässt sich allerhand bestimmen. Blöderweise hat die Tourismusbranche im entscheidenden Moment weggehört und Pi mal Daumen den Mittelpunkt aller Mittelpunkte in den Norden Quitos gelegt. Dorthin wo sich ohnehin ein Haufen Ausländer tummeln. Um die Sache klar zu machen wurde vor Jahrzehnten noch ein richtig fettes Monument hingebaut damit der doofe Touri, nachdem er 3,50 $ Eintritt bezahlt hat, auch was vor die Linse bekommt. Dann aber kamen irgendwann ein paar kritische „Experten“ (vermutlich von einer konkurrierenden Tourist Agency) auf den Gedanken mal mit GPS nach zu messen, und siehe da: der Mittelpunkt der Erde befindet sich „in Wirklichkeit“ 240 Meter weiter links. Ooops. Also wurde fix ein zweiter Park gebaut. Mit Restaurants, Würstchenbuden und T-Shirt Shops. In diesem zweiten Park werden allerhand Tests präsentiert, die beweisen sollen dass der Nullpunkt ungemeine Auswirkungen auf die alltägliche Physik hat. Wenn man zum Beispiel in einem Waschbecken den Stöpsel zieht und das Wasser ablaufen lässt gibt es keinen Strudel.
Stellt man den Wasserbehälter allerdings nur ein leicht abschüssiges Gelände kommt es schnell zu Verwirbelungen im Ausguss. Ich war erst mal natürlich genau so baff wie alle anderen, habe aber wenige Tage später – am wahrhaften Mittelpunkt der Erde– gelernt wie man uns übers Ohr gehauen hat. Ist im Grunde genommen kein Beinbruch, ich schaue mir ja auch den Mann mit den zwei Köpfen auf dem Oktoberfest an, aber dass wir Touris zu 2 falschen Mittelpunkten gekarrt werden und jeweils einen Fünfer und mehr abdrücken, geht mir gehörig auf die Nerven. Da hilft nur ein (völlig überteuertes) Corona in der „Middle of the Earth Bar“. Übrigens ohne Strudel… das Glas wird in einem Zug gelehrt. Der echte Mittelpunkt liegt by the way weit draußen im Norden. An einer staubigen Straße zwischen Quito und Otavalo. Eher unspektakulär und ohne Eintrittsgeld, dafür mit einem übereifrigen jungen Wissenschaftler der jedem Besucher (davon gibt es leider nicht viele hier) verständlich und höflich erklärt was es mit diesem Nulllinien Dingsbums auf sich hat. Danke dafür. Den finalen Beweis für uns Mitteleuropäer liefert übrigens das Navi von Juan. Die Längen- und Breitengradanzeige lautet an diesem Ort unmissverständlich 0-0.

Wer sich ins ecuadorianische Inland aufmacht tut das weil er Vulkane sehen will. Kein Ort der Welt präsentiert sie in einer solchen Dichte wie dieses südamerikanische Juwel zwischen Kolumbien und Peru. Einige sind noch aktiv, immer wieder kommt es zu Eruptionen. Den katholischen Ecuadorianer scheint das aber nur bedingt zu stören. Gott wird’s schon richten. Daher bauen viele ihre Bauernhöfe auch direkt in den fruchtbaren und ebenen Krater. Senior „Freddy“, ein Siebzigjähriger im Poncho, dessen trübe Augen in einem Ozean der Weisheit zu schwimmen scheinen und der vermutlich fast so blind ist wie sein Hund, welcher ihn auf Schritt und Tritt begleitet, blickt zuversichtlich in die Zukunft. Sein Hausvulkan (ich habe den Namen auf der Karte leider nicht mehr gefunden) wird von den Wissenschaftlern zwar noch als aktiv eingestuft und steht unter andauernder Beobachtung, schlummert aber seit Jahrhunderten ohne ein einziges Bäuerchen vor sich hin.

Der spektakulärste Feuerspucker im zentralen Ecuador ist der Cotopaxi. Er gehört zu den höchsten Vulkanen der Welt. Sein schneebedeckter Krater ragt auf kapp 6000 Metern Höhe in den stahlblauen Himmel südwestlich der Hauptstadt. Wer ihn bezwingen will muss drei Tage Höhentraining absolvieren und mit entsprechender Ausrüstung plus Führer anreisen. Alles andere als ein Spaziergang, jedes Jahr kommen hier Menschen ums Leben. Ich habe allerdings weder Zeit noch Muße dieses Wagnis in Angriff zu gehen. Ein solcher Trip ist etwas für Leute die jedes Jahr einen Alpengipfel nach dem anderen erklimmen, mit Steigeisen und allem drum und dran. Aber es gibt da noch die „kleine Tour“. Heißt, mit dem Jeep auf etwa viertausendfünfhundert Meter, dann zu Fuß auf 4.8 ins Basislager der Bergbezwinger und dann – je nach Kondition und Wetterbedingungen – noch mal etwa fünfhundert Höhenmeter bis zur Gletschergrenze. Allein dieser Weg ist für den durchschnittlichen Mitteleuropäer einer bis an die Grenzen körperlicher Belastbarkeit. Wir wollen es wissen. Also steht Juan morgens um 6 in Wanderstiefeln und Flanelljacke an der Hotelrezeption um uns den „Nacken des Mondlichts“, so nennen ihn die Einheimischen, persönlich vor zu stellen. Zwei Stunden später rumpeln wir mit einem uralten Pickup den Berg hoch. Es ist nasskalt, trüb und die Baumgrenze verschwindet hinter einem satten Nebel. So wie meine Hoffnung den Berg überhaupt vor die Linse zu bekommen. Aber Juan schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Der Cotopaxi sei zwar die meiste Zeit verhüllt wie eine Braut vor der Trauung, aber heute habe er ein gutes Gefühl. Der Südamerikaner behält Recht. Nur wenige Augenblicke später, auf einem Seen Plateau in knapp 3.600 Metern Höhe, durchbrechen wir die graue Suppe und glotzen wie betäubt auf dieses Wunder der Anden. Die Sonne brennt in dieser Höhe nahezu ungefiltert auf unsere Haut, der eiskalte Wind bläst in Orkanstärke, aber all das ist vergessen wenn der Berg unverhüllt sein bestes Stück, den schneebedeckten Krater, gen Himmel streckt als wolle er uns sagen „Nimm mich, wenn Du kannst“. Alles klar. Ich komme, Schätzchen! Zwanzig Minuten später stampfen wir, keuchend und gegen die Böen ankämpfend, ein Geröllfeld hoch. Ziel ist das kleine Basislager auf 4.800 Metern. Es sind nur knapp 300 Höhenmeter, aber die kosten Dich eine Stunde und beide Lungenflügel. Ich pfeife wie ein Bauarbeiter nach 30 Jahren Rothändle. Jeder Schritt ist ein Sieg gegen den inneren Schweinehund, jede Pause ein Schrei nach Sauerstoff. Ich fürchte, meine roten Blutkörperchen werden mir das niemals verzeihen. Der Lohn unserer Mühen ist eine heiße „Locro“, die traditionelle ecuadorianische Kartoffelsuppe. Das Leben kann so schön sein wenn man was gerissen hat. Juan und meine Freundin beschließen es gut sein zu lassen und die Sonne zu genießen. Ich will weiter bis zur Gletschergrenze nur wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels. Die Bedingungen sind gut, die Aussicht bestimmt toll – also keine Gefahr. Die folgenden neunzig Minuten meines einsamen Aufstieges bleiben allerdings besser unkommentiert da würdelos. Ich verfluche den Berg, ich verfluche mich. Ich krabble auf allen Vieren Richtung Krater und sehe dabei mit meiner Strickmütze aus wie meine Großmutter auf dem Weihnachtsmarkt. Aber ich ziehe es durch – bis zur Schneegrenze, wo ich nicht mehr weiter komme. Einmal durch schnaufen, das Eis des Gletschers anfassen, den Blick über den Wolken genießen und wieder zurück marschieren. Als ich unten ankomme gibt’s Applaus und bewundernde Blicke von anderen Basiscamp-Suppenlöfflern. Hat sich doch gelohnt! Hauptsache den anderen Touris gezeigt, dass Deutsche keine Weicheier sind.

Ich rechne mit schwerem Muskelkater am nächsten Tag aber erstaunlicherweise hält sich mein Gestell gut. Es geht mit dem Auto Richtung Otavalo – zum berühmten Indian Market. Die drei bis sechsspurigen Straßen sind frei außerhalb der Stadtgrenzen von Quito, trotzdem hält sich jeder brav an die vorgeschriebene Geschwindigkeit und den Abstand zum Vordermann. Beeindruckend, aber warum? Macht doch bei uns auch keiner?! Achtung, hier kommt die Lösung: in Ecuador wurde erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal in der Geschichte der hiesigen Straßenverkehrsordnung eine Art Punktesystem á la Flensburg eingeführt. Heißt, ab sofort kann man auch hier seinen Führerschein verlieren. Ganz was Neues für die Südamerikaner. Finden auch alle doof – vom Taxi- bis zum Truckfahrer. Regeln im Straßenverkehr? Hatten doch bisher nur die Europäer und Amis!
Der „Indian Market“ in Otavalo ist eine Enttäuschung, eine offensichtliche Touristenfalle. Wahrscheinlich verdient der Verkäufer am Stand drei Dollar am Tag und verkauft Stangenware, die offensichtlich von den selben Leuten produziert wird, welche auch Armbänder mit Tierkreiszeichen oder Manchester United Schals in millionenfacher Auflage (in China?!) herstellen. Ooooops, da ist einer – direkt neben denen mit Real Madrid- und Barcelona Aufnähern. Angepriesen von der armen Wurst im Poncho… wobei man fairerweise sagen muss, dass es auch in Ecuador ein Fußballteam mit dem Namen FC Barcelona gibt… trotzdem, der Markt ist ein Reinfall. Also schnell ein Bierchen kippen und ab aufs Land, dorthin wo das wahre Leben Südamerikas tobt.

Die Strassen Ecuadors sind die Lebens-Adern des Landes. Nicht in den Dörfern wird das Geschäft gemacht sondern an den Highways. Die Übergänge zwischen Kaff A und Kaff B sind fließend, alle zwanzig Meter steht irgendjemand oder irgendwas, meistens gesellt sich Gleiches zu Gleichem. Hat einer irgendwo Erfolg mit Schweinehälften, ziehen zehn bis zwanzig Konkurrenten nach und eröffnen innerhalb kürzester Zeit weitere Schweinehälften Läden. Wir passieren also in diesem Augenblick eine 3 Kilometer lange Allee voller Schweinehälften. Der interessierte Kunde fährt rechts ran, sucht sich die Sau aus und reiht sich direkt im Anschluss wieder in den Verkehr ein. In Deutschland unvorstellbar, hier die Regel. Ich bin Veganer, also leide ich still und freue mich umso mehr als wir wenige Minuten später im Rosenkrieg ankommen. Ein Exportschlager in Ecuador. Nur wenige Länder produzieren und exportieren derartige Mengen. Ein Strauß mit sechs Langstieligen kostet hier übrigens weniger als 1 Dollar. Das richtige Land für verliebte Kerle.
Kurzer Zwischenstopp bei diesmal lebenden Tieren. Eine Auffangstation für bedrohte und gestrandete Raubvögel, und einer der wenigen Orte auf dieser Welt wo man einem ausgewachsenen Kondor aus nächster Nähe direkt in die Augen blicken kann. Was der Eisbär auf dem Land und der weiße Hai im Wasser ist, ist der Kondor in der Luft. Das Ende der Nahrungskette, ein Apex Predator, der König der Könige. Dieser König wiegt 15 Kilogramm und ist gut uns gerne drei Meter breit –von der einen Flügelspitze zur anderen. Leider versagt seine Libido. Das Weibchen lebt im selben Gehege, sieht bezaubernd aus und zeigt lebhaftes Interesse. Nur leider kommt der alte Mann nicht in die Gänge. Die Pfleger haben die Hoffnung auf Nachwuchs aufgegeben, und dass wo Kondorbabys doch so wichtig wären. Weltweit, so glauben die Experten, leben noch an die zehntausend Exemplare, Tendenz rückläufig. Ich sehe mir den alten Herrn in seinem eindrucksvollen, schwarz-weissen Kleid ein paar Minuten lang an. Regungslos verhaart er auf einem Stein, lässt sich nicht in die Karten schauen. Ich weiß noch nicht einmal ob er mich überhaupt wahrnimmt. Aber ich stelle für mich fest dass dieses Wesen hier nicht hin gehört. Er sollte in tausenden Metern Höhe seine Kreise ziehen, die Anden erobern, von Ecuador bis nach Feuerland fliegen. Dann würde er vielleicht auch das ein oder andere Kondorweibchen beglücken und seine Art erhalten… aber dieser Kondor wird niemals mehr fliegen. Er wurde gejagt, gefangen genommen und geschändet – für irgendeine Religion. Er hat das Fliegen verlernt, in jeder Hinsicht.

Noch ein kurzer Halt am Cuicocha. Einer der wenigen, aktiven Vulkankrater die durch Wasser bedeckt sind. Die Tiefe ist beeindruckend. 200 Meter von der tiefblauen Oberfläche bis auf den Grund des Kraters. In der Mitte 2 kleine Inseln die tausende Meerschweinchen beherbergen. Daher auch der Name. Denn die Meerschweinchen dürfen im Gegensatz zu den meisten ihrer Artgenossen NICHT gegessen werden. Hatte ich das eigentlich schon erwähnt? Meerschweinchen gelten in Südamerika als Delikatesse und werden fast immer und überall fertig gegrillt angeboten. Und bitte jetzt nicht das Gesicht verziehen. Wir Deutschen essen Spanferkel und Milchkalb. Das ist keinen Deut’ besser.
Spätes Mittagessen (kein Meerschweinchen) in der „Hacienda“, eine aufgehübschte Geistervilla südlich der Hauptstadt. Berühmt weil hier der deutsche Forscher Alexander von Humboldt für ein paar Tage genächtigt und gewirkt hat. Touristen verirren sich nur bedingt hierher, das einzige „Humboldtsche“ hier ist ein altes, aufgeklapptes Buch mit handgeschriebenen Notizen des Wissenschaftlers und Darwin Verbündeten. Ansonsten riecht’ s hier wie in einer alten Bibliothek mit Wasserschaden. Dennoch: dieser Ort hat was. Er wirkt ein kleinwenig schrullig mit all den alten Sachen, die überall herumstehen. Der Garten ist verwildert, der Springbrunnen tröpfelt leise vor sich hin, im angelegten Teich schwimmen vermoderte Blätter. Solange sich die Sonnenstrahlen darin spiegeln hüpft das Herz, sobald diese aber hinter den hohen Baumwipfeln verschwinden läuft es einem kalt den Rücken runter. Die Hacienda ist die perfekte Vorlage für eine 60er Jahre Edgar Wallace Kulisse. Als wir in der Dämmerung die schmale Allee entlanglaufen und das erste, verwitterte Eisentor passieren, fällt mir rechts noch ein alter Friedhof ins Auge. Ich will gar nicht wissen wer hier begraben liegt, in dieser Kulisse stellt „es“ sich mir möglicherweise noch persönlich vor.
Das ecuadorianische Landleben ist einfach und rustikal, aus der Sicht eines Mitteleuropäers vielleicht sogar ein klein wenig romantisch. Im Schatten eines wolkenverhangenen Vulkangipfels bitte ich Juan kurz anzuhalten. Links geht ein zugewucherter Feldweg ab, an den Seiten kaum erkennbar durch Stacheldraht gesichert. Am Ende stehen 2 Bauernhäuser aus grobem Stein. Notdürftig zusammengeschustert und von einem Ziegeldach bedeckt. An einem kleinen, recheckigen Brunnen aus grobem Beton schrubbt die junge Mutter traditionelle Gewänder, ihre Tochter füllt mit einem rostigen Eimer schmutziges Wasser nach. Wenige Meter weiter döst eine alte Frau in Lumpen vor sich hin, ihr Mann schnarcht zufrieden auf einer groben Metallpritsche vor sich hin. Ein angeketteter Terriermischling kläfft mich an. Er bewacht offensichtlich Hof, Hühner und das dürre Kalb welches an einem ausgetrockneten Seil stoisch den Rasen im Umkreis wegputzt. Ich bitte um Erlaubnis, ein paar Fotos machen zu dürfen. Die Mutter ist erst skeptisch, Fremde verirren sich so gut wie nie in diese Gegend, stimmt dann aber zu. Als ich die alte Dame mit einem vorsichtigen Handschlag begrüßen möchte, lehnt diese zunächst ab. Ihre schmutzigen Hände sind ihr peinlich. Sie legt sie zerknirscht in ihren Schoss, ich greife beherzt zu. Sie lächelt nur kurz und wendet dann ihre müden, wässrigen Augen ab. Juan wird mir später im Wagen erzählen dass diese Familie – wie viele andere im Inland Ecuadors – nur von dem leben was sie selbst anbauen. Hier und da produzieren sie ein wenig mehr und können das auf einem Wochenmarkt verkaufen. Das Kalb, welches Milch liefern soll, ist ein seltener Luxus. Der Besuch auf dem Hof dieser Familie machen mir wieder einmal klar in welchem Überfluss wir leben.

"Der Besuch auf dem Hof dieser Familie machen mir wieder einmal klar in welchem Überfluss wir leben."

Wir halten in einem kleinen Dorf ohne Namen – oder zumindest ohne Ortsschild. Juan hat Hunger, eine rüstige Lady mit Pranken, so groß wie die des Bullen von Tölz, verkauft unter einer Plastikplane Kuhmagen vom Grill. Ich wundere mich nicht, in Ecuador stellt irgendjemand immer irgendwo einen Rost auf. In Hofeinfahrten, Garagen, Grünstreifen oder in Unterführungen. Im benachbarten Hinterhof entdecke ich zwei ältere Herren in einer Art Gemischtwarenladen, höchstens 5 Quadratmeter groß. Die meisten Cola-Flaschen hier sind angestaubt, die Gitarren dafür gewienert wenn auch nicht gestimmt… sie singen uns ein ecuadorianisches Volkslied. Ich will sie auf ein Bier aus eigenem Bestand einladen. Sie lehnen an. Alkoholismus ist in Ecken wie diesen sehr verbreitet, und wer ihm nicht schon verfallen ist, der belässt es auch dabei.
Wir erreichen Quito nach Einbruch der Dunkelheit. In einer winzigen, für Autofahrer gesperrten Straße, führen Kunststudenten zwischen jahrhundertealten Häusern Straßentheater auf, so bezaubernd wie ich es noch nie gesehen habe. An die zwanzig Zuschauer quetschen sich mit Genickstarre auf Plastikstühlen an die Hauswand links, ein Mädchen und ein Junge spielen auf dem gegenüberliegenden, mit Blumen geschmückten Balkon, Romeo und Julia. Nach jedem Schmachtsatz tobt der Applaus, der Rotwein fliest in Strömen. Ich will ein Foto machen, lasse es aber sein. Ich würde den Zauber des Augenblicks zerstören – meinen und den der begeisterten Fans. Das ist es nicht wert.
Das Abendprogramm ist dermaßen skurril das Ihr mir kein Wort glauben werdet. Ich erzähl’s trotzdem. Erstmal zeigt uns Mayra (Hotel- und Programmchefin des katholischen Radiosenders) ihren Lieblingskonvent. Sie ist auf DU mit dem Chefpriester, der sperrt uns auf. Der Mann ist höchstens so alt wie ich, trägt einen akkuraten Kurzhaarschnitt und irgendwo in den Tiefen seiner schneeweißer Kutte mit schwarzer Hüftkordel ein Smartphone dessen Anruferkennung klingt wie ein Ibiza Chillout-Schunkler. Das Ding bimmelt durchgehend, ab und zu geht der Priester auch dran während wir gerade die stigmatisierte Disneylandvariante der katholischen Kirche bestaunen. Unglaublich wie das Interieur der spanischen Gläubigen im Vergleich zu dem der Deutschen rein knallt. Höhepunkt ist ein gläserner Schneewittchen Sarg, in dem ein Plastik Jesus in Originalgröße (ist das jetzt Blasphemie? man weiß ja nicht wie groß der Bub war) blutüberströmt auf Watte gebettet liegt.

Eine Stunde später besteht Juan darauf uns sein Haus, seine Familie und seinen Boxer (ein Hund, kein hauseigener Mike Tyson) vorzustellen. Ich finde mich wieder im dritten Stock einer (unter deutschen Gesichtspunkten) Messihütte aus dem sechzehnten Jahrhundert. Der Ecuadorianer an sich sammelt akribisch alles was ihm in die Finger kommt und platziert es – weit Abseits mitteleuropäischer Vorstellungen von Innenarchitektur und Stil – dort, wo noch was hinpasst. Der Boxer ist hyperaktiv und absolut liebenswert, wie auch der Rest von Juans Familie. Juan’s Mutter spricht zwar kein Wort englisch, erklärt uns aber jeden Ur-Ur-Ur Ahnen der in verblichenen schwarz-weiß Fotografien an der Wand hängt. Die Schwester kommt gerade aus der Uni, trägt einen knallengen Minirock zu stahlblauem Oberteil und spricht nicht so viel. Juan’s Bruder ist eigentlich Ingenieur, gibt aber nebenbei noch Klavierkonzerte und kommt just heute von einem Auftritt in Kanada zurück. 

Juan’s Vater ist Allgemeinarzt und Gynäkologe beim ecuadorianischen Militär, untersucht in dieser Funktion die Frauen der Soldaten und trommelt leidenschaftlich gerne auf seiner roten Kickdrum. Da meine Freundin Studiosängerin ist, kommt das Eine zum Anderen. Papa Juan wünscht sich „My heart will go on“ von Celine Dion mit Klavier und – Achtung- Schlagzeugbegleitung. Ich traue mich nicht das filmen… am Ende denken die noch ich will sie ans Fernsehen verscherbeln. Und wir Deutschen gelten hier als ungemein höflich und zuverlässig. Das bleibt mal besser so.

Bei meiner letzten Quito Anekdote weiß ich ehrlich gesagt nicht ob ich lachen oder weinen soll. Tatort: eine Apotheke in der Altstadt von Quito. Opfer: ein freundlicher, älterer Herr im Apotheker Kittel. Nach abgeschlossenem Geschäft will der Mann wissen, woher wir kommen. „Allemania, Señor“. Daraufhin zeigt er uns freudestrahlend ein kleines Büchlein voller deutscher Orte (in Lautschrift). Ich glaube zu verstehen, dass das Notizen über Kunden sind, die ihn hier besucht haben. Er ist ein Momente-Sammler und stolz auf internationale Gäste. Wir freuen uns mit ihm, meine Freundin streckt die Hand nach oben, fordert ihn strahlend zum High Five Schlag auf. Der Apotheker erblasst, weicht zurück, ist vollkommen verstört. Wir verstehen nicht und bitten Juan zu intervenieren. Der redet auf den Mann ein, versucht heraus zu finden was ihn so erschreckt hat. Ich wette, ihr kommt nicht drauf (ich kann es in diesem Moment selbst kaum glauben). Der arme Kerl dachte, wir wollten ihn zum Hitlergruß auffordern! Ich lache hysterisch drauf los und denke mir im selben Moment: Wir Deutschen sind in dieser Hinsicht zu Recht paranoid. Wenn sich ein so cleverer Ecuadorianer bei der leisesten Handbewegung einer Blondine in der rechten Bruderschaft wähnt, haben wir noch ordentlich zu tun, was unser Image im Ausland angeht. Oder die müssen ihren Geschichtsunterricht auf den aktuellen Stand bringen. Egal, wir können das am Ende klären und in Frieden gehen. Ob er München nun in sein kleines schwarzes Büchlein aufnimmt ist allerdings fraglich. Schließlich wollte die Gestapo höchstpersönlich Schnupfenspray bei ihm kaufen.

Der Flug nach Galapagos geht sehr früh. Um 6 stehen wir mit einer Gruppe aufgedrehter, amerikanischer Frührentner in der Schlange. Ich kucke mir die Kofferbändchen an. „Wildlife Adventure Tours“ oder so ähnlich. Logisch, Galapagos findet sich nicht bei Neckermann oder TUI, Galapagos ist was Besonderes. Ein Exot unter den Reisezielen, im Feuer geboren, auf Vulkanstein gewachsen, Weltnaturerbe der UNESCO, Wiege der darwinschen Evolutionstheorie und Epizentrum aller Sehnsüchte sämtlicher Naturliebhaber dieses Planeten. Die romantische Vorstellung dieses so einmaligen Ortes löst sich allerdings ruckzuck in Luft auf wenn die 200 Seelen Boing nach einem dreistündigen Flug auf dem winzigen Inselflughafen von San Cristóbal aufsetzt. Die Kleinstadt mit Anschluss an den internationalen Flugverkehr präsentiert sich nicht sehr viel anders als eine Hafen-Vergnügungsmeile auf Gran Canaria. T-Shirt – und Souvenirshops, Bars, Discos, Tattoostudios und Eisdielen. In zweiter Reihe heruntergekommene Internetcafés und vereinsamte Wechselstuben. Wäre da nicht der schnarchende Seelöwe an der Treppe zu unserem Pier gewesen, hätte ich mich ernsthaft gefragt ob die uns nicht aus Versehen am hässlichen Ende von Venice-Beach raus gelassen hätten – wobei Seelöwen gibt’s auch in Venice. Nein, wir sind schon richtig hier. Und gleich würde es auch sehr viel besser und schöner und überhaupt absolut traumhaft versichert uns Edwin, der Tauchführer der Galapagos Sky, ein Expeditionsschiff und unser Zuhause für die kommenden 9 Tage. Um das kurz vorweg zu nehmen: Galapagos ist der Mount Everst der Taucher. Wer mit großen Fischen schwimmen möchte, ist hier richtig. Das will ich, und das wollen auch die anderen an Bord. Die „Anderen“… immer so eine Sache auf Tauchsafaris. Ich verbringe eine Woche auf engstem Raum mit 10 anderen Menschen von denen ich nicht weiß ob sie mir eine gute Zeit bescheren oder den Tag versauen. Wir haben Glück. Unser Team ist super. Mit von der Partie sind ein holländischer TV-Star mit seinem 2 Meter hohen Sohn, ein spanisches Ehepaar mit Profiausrüstung, zwei schwule Amerikaner, von denen der eine vorige Woche den amerikanischen IronMan als Neuntbester seiner Klasse gelaufen, geradelt und geschwommen ist. Außerdem ein deutscher BASFler im Ruhestand mit Tochter, ein Südstaatler mit Stiefsohn, sowie ein britischer Laborant der hauptberuflich für die Polizei Drogen auf Reinheitsgehalt testet, sich diese Reise allerdings nicht von seinem Salär sondern über Gewinne bei Kreuzworträtselwettbewerben finanziert hat. Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Wir legen ab und tausend Träume in tiefem Blau gehen in Erfüllung. Ich bin leidenschaftlicher Taucher, die sind noch schlimmer als passionierte Golfer weil sie über nichts anderes reden sobald man sie nach ihrem Hobby fragt. Ein Alptraum für Außenstehende. Ich würde mir selbst eine schmieren, müsste ich mir bei meinen ausschweifenden Erzählungen über Tauchgänge zuhören. Also lasse ich es und zeige Euch einfach meine schönsten Momente – ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren. Worte beschreiben dass was ich an diesem Ort gesehen habe ohnehin nur bedingt. Genießt einfach die bewegten Bilder die ich Euch mitgebracht habe. Bilder einer marinen Enklave wie sie die Natur nur ein einziges Mal hervorgebracht hat.

Großartig, oder? Ich kenne keine Beschäftigung die so dermaßen entschleunigt. Könnte ich noch einmal von vorne anfangen, ich würde als hauptberuflicher Unterwasserfilmer anheuern. Drei absolute Superstars haben es übrigens leider nicht in den Film geschafft. Sie waren zwar da, meine Kamera leider nicht. Die lag schon im Schlauchboot als ich noch im Wasser getrieben bin um meine Ausrüstung ab zu legen. Da schreit plötzlich der Ecuadorianer auf dem Zodiac wie am Spieß und fuchtelt mit beiden Zeigefingern direkt in meine Richtung. Es dauert ein paar Sekunden bis ich verstehe, was er Ron und mir sagen will. KILLLLLLLLER WHAAAAAAAAAALES. Alter Schwede, Orcas im Rücken und ich blase seelenruhig meine Maske aus. Jetzt muss es schnell gehen. Ich drücke mir die Gläser ins Gesicht, stecke mein Mundstück wieder rein, lasse die Luft aus dem Anzug und sinke. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde bis ich begreife, was hier los ist. Zwei ausgewachsene Killer-Wale mit Kalb kommen neben uns hoch um Luft zu holen. Da bleibt einem nicht nur die Luft sondern auch das Tageslicht weg. Ihre rabenschwarzen Köpfe schieben sich vor die Nachmittagssonne, die sich diffus im aufgewühlten Wasser des Pazifiks bricht. Drei Schattenwesen von immenser Leibesfülle und Kraft beäugen einen Adrenalin- und Serotonin gebeutelten Mitteleuropäer, der in diesem Moment bemerkt, dass er verdammt noch mal ein paar wesentliche Muskelpartien in den Griff bekommen sollte sonst muss der Neoprenanzug in die Reinigung. Ich weiß nicht mehr wie lange diese Begegnung angedauert hat. Vertraut man den Gesetzen der Natur und dem Verhalten dieser scheuen Tiere, dürften es nur wenige Sekunden gewesen sein. Aber für mich bedeutete dieser Moment alles und für immer. Drei Orcas in freier Wildbahn und unmittelbarer Nähe. Eigentlich kann ich jetzt auch gleich den Löffel abgeben und dem Schöpfer entgegen treten. Er hat mir immerhin ein Date mit seinen wohl beeindruckendsten Schwergewichten verschafft. Das ist besser als jeder Lottogewinn. Ganz sicher.
Zurück auf ecuadorianischem Festland, der Boden schwankt. Das wird auch noch für unsere letzten Tage hier so bleiben, das haben die Nachwehen von Seereisen an sich. Wir fahren Richtung Süden, nach Baños. Ein kleines Bergdorf inmitten sanfter Hügel, eingebettet in dichten Urwald und (natürlich) am Fuße eines höchstaktiven Vulkanes. Bei Touristen sehr beliebt weil A traumhaft schön, B spottbillig und C voller adrenalingeschwängerter Beschäftigungsmöglichkeiten. In und um Baños herum kann man den ganzen Tag von Brücken springen, sich an Seilen durch Baumwipfel hangeln, mit Mountain Bikes das Speed Limit missachten oder in großen Schlauchbooten reißende Flüsse bezwingen. Wandern geht hier natürlich auch aber das macht kaum einer weil zu langweilig. Dementsprechend jung und international ist das Publikum. Wir quartieren uns in einer Privatpension ein. Jacky und Igor sind verheiratet, haben 2 Kinder, 2 Hunde und Gott sei Dank den „Google Translator“ auf ihrem kleinen Rechner im Frühstücksraum. Sonst hätten wir vermutlich jeden Morgen zwei Stunden gebraucht um mit Händen und Füßen klar zu machen, was veganer Brotaufstrich und Marmelade sind (Gibt’s hier alles!). Zudem sind die beiden unendlich entspannt. Als die Vulkansirene über der Stadt ertönt – und zwar so dass die Hotelwände wackeln – gießt Jacky noch mal seelenruhig Kaffee nach um eine viertel Stunde später die Jalousien beiseite zu schieben und das Bäuerchen des Hausvulkans auf Dringlichkeit zu prüfen. Alles easy, sagt sie. Außerdem befänden wir uns im Falle eines Falles innerhalb der „Sicherheitszonen“. Wenn der „Tungurahua“ tatsächlich Feuer und Stein spucken sollte, seien wir immerhin nicht die ersten die dran glauben müssten. Beruhigend. Zumal es wenige Wochen nach unserem Aufenthalt in Baños tatsächlich zu einem gewaltigen Ausbruch kommt und die ganze Stadt evakuiert werden muss.
In diesen letzten Tagen lerne ich noch mal jede Menge über den Südamerikaner. Baños ist zwar touristisch aber eben auch klassisch kleinbürgerlich und noch immer ein bisschen für sich.

"Ihre rabenschwarzen Köpfe schieben sich vor die Nachmittagssonne, die sich diffus im aufgewühlten Wasser des Pazifiks bricht"

Der ecuadorianische Einzelhändler beispielsweise muss flexibel sein um sein Überleben zu sichern. Heißt, neben dem primären Warenangebot bedarf es zwingend noch einiger, alternativer Dienstleitungen. Je abstruser die Kombi, desto besser. Heute zum Beispiel entdecke ich einen DVD-Laden, dessen Besitzer im Verkaufsbereich nebenbei noch eine Änderungsschneiderei betreibt. Kein Scherz, neben den Regalen mit den offensichtlich illegal raubkopierten Filmen sitzt der Chef und macht gerade einen Blazer schmaler. Apotheken hier bieten übrigens grundsätzlich auch Haargel und Sonnenbrillen an. Und in einem Laden für Strickwaren finden sich doch tatsächlich noch 16 Gigabyte Spiegelreflexkamera-Speicherkarten und Fotoaufsteller. Ich vermute schwer, dass so mancher Betreiber nebenbei noch überflüssige Weihnachtsgeschenke von der Schwiegermutter verscherbelt. Auch die Verkaufsstrategie ist für den Mitteleuropäer manchmal nicht immer gleich durchschaubar. In einem Sneakerladen haben sie einen hölzernen Gartenzaun an die Tür gebaut. Der Kunde betritt das Geschäft also nicht, er steht auf der Straße und bekommt die Schuhe seiner Wahl zum Anprobieren nach draußen gereicht. Da steht er also, der arme Tropf, und hüpft auf einem Bein über den Asphalt, während er gleichzeitig versucht die neuen ADIDAS Jogger anzuschnallen.
Stadt- und Überlandbusse werden übrigens nicht nur als Transportmöglichkeit genutzt sondern gerne auch als Bauchläden oder Trash-Kino. Bei unserer Fahrt von Baños nach Machay steht doch tatsächlich ein Typ in bestickter Top Gun Bomberjacke vorne und preist Cholesterin Tabletten an. Was für eine Nummer! Ein Anfangzwanziger vercheckt Rentner-Pillen in einem Stadtbus mit der Überzeugung einer HSE24 Moderatorin. Als wir 5 Stunden später in der Abenddämmerung mit dem Bus zurückfahren, fehlt der Butterfahrt-Verchecker, dafür wird vorne die Glotze angemacht und ein Amazonas-Abenteuer-Thriller eingelegt. Auf Spanisch und schlecht synchronisiert. Alle starren gebannt hin obwohl klar ist: Das Ende wird hier keiner miterleben, der Film dauert definitiv länger als die Fahrt. Aber vielleicht bleiben die auch alle an der Endstation sitzen und der Fahrer geht mittagessen?

Rein ins ecuadorianische Nachtleben. Spanische Bars haben aus Prinzip leere Seifenspender und nur eine Klopapierrolle für Männlein und Weiblein. Kein Scherz, dieses Phänomen ist weit verbreitet. Zwischen zwei Toilettentüren hängt ein Klopapierspender. Heißt, man muss bei umfangreicherem Geschäft richtig kalkulieren sonst wird’s unschön. Wer sich trotzdem verrechnet bei der Anzahl der Blätter schreit lauthals nach Hilfe – habe ich zich mal mitbekommen – und bekommt dann von einem Wildfremden Klopapapier über die Tür ins gar nicht mehr so stille Örtchen gereicht. Es dauert ein wenig bis ich dahinter komme warum das hier so gehandhabt wird. Aber am Ende erscheint die holprige (weil englische) Erklärung unseres Barmanns logisch. Viele Südamerikaner haben so wenig Geld das sie auch gerne mal Klopapier mitgehen lassen. Wenn die Rolle allerdings VOR der Tür angebracht wird ist das nicht mehr möglich. Skurril, oder? Überhaupt wird hier alles ein klein wenig anders gehandhabt als wir Mitteleuropäer das gewohnt sind. Wenn eine Kneipe kein Essen anbietet kann man seine Pizza oder was auch immer gerne auch im Restaurant gegenüber bestellen und sich bringen lassen. Geraucht werden darf immer und überall und wer sein Bier mitten auf den Billardtisch stellt kriegt keinen Anschiss sondern noch ein Zweites dazu. Zielwasser halt.
Ein letzter Wermutstropfen bevor es nach Hause geht. Ich werde beklaut. Während der Busfahrt von Baños nach Quito. Mein Handgepäckkoffer ist weg als wir am Bahnhof der Hauptstadt ankommen. Schöner Mist. Das gemietete Unterwassergehäuse war da drin. Außerdem mein Taucherlogbuch, das Ladegerät für die elektrische Zahnbürste, Flip Flops und eine Hose. Ich verdächtige den Fahrer und seinen Kompagnon, die einzigen die Zugang zu den Gepäckfächern hatten. Aber es hilft nix. Meine Beschuldigungen werden weggefuchtelt, die Polizei spricht kein Wort Englisch und unser Flug geht in drei Stunden. Egal, ich werde trotzdem wiederkommen. Ecuador brennt auf der Haut, riecht nach sattem Grün, schmeckt nach frischer Minze und nassem Tabak. Es haut Dich um und fängt Dich wieder auf. Ich war gerade mal drei Wochen dort, habe am süßen Kelch Südamerikas nur genippt. Der Tag wird kommen, an dem ich diesen Ort in großen Schlücken genieße. Und dazu ein Sandwich im „Café Dios no Muere„. Gracias.